Verfahren vor dem Einzelrichter (Stand 01.06.17)

Änderungen seit Juni 2017
Laut Mitteilung des Gerichtshofes vom 01.06.17 will dieser versuchen, im Verfahren vor einem Einzelrichter eine konkrete Begründung (der Unzulässigkeit) in seiner Entscheidung zu geben. Außerdem wird die Entscheidung von dem zu entscheidenden Einzelrichter unterschrieben. Ein Vorhaben, das bei mehr als 2000 Beschwerden pro Jahr pro Einzelrichter jedoch kaum zu bewältigen ist.

Verfahren vor dem Einzelrichter
Viele Beschwerdeverfahren beim EGMR enden mit folgendem Brief an Beschwerdeführer:
„Hiermit teile ich Ihnen mit, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Einzelrichterbesetzung Richter ……., unterstützt von einem Berichterstatter in Übereinstimmung mit Artikel 24 Absatz 2 der Konvention) entschieden hat, die Beschwerde für unzulässig zu erklären.
Soweit die Beschwerdepunkte in seine Zuständigkeit fallen, ist der Gerichtshof aufgrund aller zur Verfügung stehenden Unterlagen zu der Auffassung gelangt, dass die in Artikel 34 und 35 der Konvention niedergelegten Voraussetzungen nicht erfüllt waren.
Diese Entscheidung ist endgültig und unterliegt keiner Berufung an einen Dreierausschuss, eine Kammer oder an die Große Kammer. Sie werden daher Verständnis dafür haben, dass der Gerichtshof Ihnen keine weiteren Auskünfte über die Beschlussfassung des Einzelrichters geben und auch keinen weiteren Schriftverkehr mit Ihnen in dieser Angelegenheit führen kann. Sie werden in dieser Beschwerdesache keine weiteren Zuschriften erhalten, und die Beschwerdeakte wird ein Jahr nach Datum dieser Entscheidung vernichtet werden.
Das vorliegende Schreiben ergeht nach Artikel 52 A der Verfahrensordnung des Gerichtshofes.
Mit freundlichen Grüßen
Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Rechtsreferent“

Aus dem Schreiben des Gerichtshofes wird der Beschwerdeführer nicht richtig schlau, warum seine Beschwerde für unzulässig erklärt wurde. Denn Art. 35 der EMRK nennt mehrere Gründe, die der Zulässigkeit einer Beschwerde entgegenstehen können:
- Nichterschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe
- Überschreitung der Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung
- falls die Beschwerde im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält
- wenn die Beschwerde unvereinbar mit der Konvention oder den Protokollen dazu ist
- wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist.

Welcher Grund lag im konkreten Fall vor, teilt der Gerichtshof aber nicht mit. Für den Beschwerdeführer bleibt das also für immer ein Geheimnis. Denn die Nachfragen darf er keine stellen.

Dass ein solches Ergebnis von dem Gericht, das sich selbst als Hütter von Menschenrechte bezeichnet, als ungerecht empfunden wird, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung.

Rechtslage
Mit dem Protokoll Nr. 14 zur EMRK wurde durch den Artikel 27A eine Einzelrichterbesetzung eingeführt. In Erläuterungen zum Protokoll Nr. 14 hießt es hierzu:
„Art. 27 EMRK lehnt sich am bisherigen Art. 28 an und umschreibt die Befugnisse der Einzelrichterinnen und -richter. Diese beschränken sich im Wesentlichen auf die Zurückweisung von ganz offensichtlich unzulässigen Individualbeschwerden bzw. Streichungen aus der Liste, wenn dies ohne jegliche weitere Prüfung auf Grundlage ständiger Rechtsprechung des EGMR erfolgen kann („clear cut cases“)“.
Der Sinn und Zweck dieser Maßnahme war, die Arbeitskraft der Richter effektiver zu nutzen und so die Arbeitsfähigkeit des Gerichtshofs zu stärken. Nach Artikel 52A der VO kann ein Einzelrichter eine nach Artikel 34 EMRK erhobene Beschwerde für unzulässig erklären oder im Register streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann. Die Entscheidung ist endgültig. Sie wird dem Beschwerdeführer brieflich zur Kenntnis gebracht.
Nach Artikel 26 Absatz 3 der Konvention darf ein Einzelrichter keine Beschwerde gegen die Vertragspartei, für die er gewählt worden ist, prüfen. Das gilt gem. Artikel 52A der Verfahrensordnung auch für das Verfahren vor dem Einzelrichter.

Aktuelle Praxis des Gerichtshofes
Die Vorgehensweise der Einzelrichterentscheidung wird in dem offiziellen Leitfaden des Gerichtshofes beschrieben wie folgt:
„Ihre Beschwerde vor dem EGMR: Wie Sie eine Beschwerde einlegen können und wie die Beschwerde dann bearbeitet wird“:
Ihre Beschwerde kommt bei der Poststelle des Gerichtshofs an, wo täglich mehr als 1.500 Briefe eingehen. … Die Poststelle sortiert die Eingangspost und leitet Ihre Beschwerde an die Rechtsabteilung weiter, die mit der Bearbeitung der Fälle des Landes, gegen das die Beschwerde gerichtet ist, beauftragt ist. Eine gegen Deutschland gerichtete Beschwerde wird beispielsweise der Abteilung zugeleitet, die sich mit Fällen gegen Deutschland beschäftigt. Die Mitarbeiter sprechen hier Deutsch und sind mit der Rechtsprechung dieses Landes vertraut. Ihre Beschwerde erhält nun eine Beschwerdenummer und wird von einem Juristen geprüft. Sobald alle Informationen vorliegen, die für eine Prüfung Ihres Falles nötig sind, wird Ihre Beschwerde einem der Spruchkörper des Gerichtshofs vorgelegt werden. Dies kann je nach Art des Falles ein Einzelrichter, ein Ausschuss oder eine Kammer sein. ¨.
So waren – laut CDDH report - im Jahre 2011 20 Richter als Einzelrichter tätig, die über insgesamt 47.000 Beschwerden “entschieden” haben, CDDH report containing elements to contribute to the evaluation of the effects of Protocol No. 14 to the Convention and the implementation of the Interlaken and Izmir Declarations on the Court’s situation, 30. November 2012. Im Durchschnitt entfielen damit auf jeden Einzelrichter rund 2.350 Beschwerden.

Kritik
Aus der oben genannten Statistik des Gerichtshofes folgt zunächst, dass durch die Vielzahl der Beschwerden beim Einzelrichter (jährlich 2.350) diesem praktisch unmöglich ist, sich selbst auf die Beschwerde zu entscheiden. Es ist daher offensichtlich, dass die Einzelrichter nicht in der Lage sind, eine solche Zahl von Fällen einer in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassenden eigenen Prüfung zu unterziehen. Damit liegt an den Mitarbeiter der für jeweiligen Mitgliedstaat zuständigen Rechtsabteilung nicht nur die Entscheidung über die Vorlage der Beschwerde an den zuständigen Einzelrichter, sondern auch die Entscheidung in der Sache selbst, mit der Folge, dass eine Entscheidung „durch den Einzelrichter“ nach Art. 26 A der VO eine Fiktion ist, d.h. sie ist überhaupt nicht erfolgt. Die Entscheidung wird durch einen – den beklagten Staat präsentierenden und von dem finanziell abhängigen - Mitarbeiter der Rechtsabteilung, der namentlich nicht bekannt ist getroffen und als „richterliche Entscheidung“ daher unzutreffend bezeichnet.

Das mit dem Protokoll Nr. 14 zur EMRK verfolgte Ziel, im Rahmen von Einzelrichterverfahren offenkundig aussichtslose Beschwerden möglichst früh und effizient zu einer Entscheidung zuführen, die das Verfahren endgültig abschließt, hat somit mittlerweile zu einer solchen Art der Verfahrensvereinfachung geführt, dass einem Beschwerdeführer keine richterliche Prüfung seiner Sache garantiert sein kann und die Qualität der Entscheidungen des Gerichtshofs nicht mehr gewahrt bleibt. Denn weder eine richterliche Unterschrift noch eine konkrete Begründung ist der „Entscheidung“ zu entnehmen.
Sogar die Human Rights Committee vom 18.6.2013, Marìa Cruz Achabal Puertas v. Spain (1945/2010), CCPR/C/107/D/1945/2010 (2013) hat die der dortigen Beschwerdeführerin übersandte Mitteilung des EGMR nach Art. 52A der VO nicht als Ergebnis der sachlichen Prüfung gewertet, weil sie „nicht hinreichend erkennen ließ, dass der EGMR eine sachliche Prüfung der Angelegenheit vorgenommen hatte“, Ziff. 7.3. Letztendlich bejahte das Human Rights Committee den Verstoß gegen Menschenrechte in dem Falle, nachdem der Gerichtshof die Beschwerde – ohne jegliche Begründung- als offensichtlich unzulässig beurteilt hatte. Die Nichtanerkennung der „Entscheidungen“ des Gerichtshofes, dessen Aufgaben sind, die Verstöße gegen Menschenrechte aufzuzeigen und unterbinden, durch das Human Rights Committee zeigte einen akuten Handlungsbedarf betreffend der Gestaltung der Einzelrichterverfahren beim Gerichtshof. So heißt es in der Entscheidung der Human Rights Committee hierzu:
“The Committee recalls its case law relating to article 5, paragraph 2 (a) of the Optional Protocol to the effect that, when the European Court bases a declaration of inadmissibility not solely on procedural grounds but also on reasons that include a certain consideration of the merits of the case, then the same matter should be deemed to have been “examined” within the meaning of the respective reservations to article 5, paragraph 2 (a), of the Optional Protocol; and it must be considered that the European Court has gone well beyond the examination of the purely formal criteria of admissibility when it declares a case inadmissible because “it does not reveal any violation of the rights and freedoms established in the Convention or its Protocols”.
However, in the particular circumstances of this case, the limited reasoning contained in the succinct terms of the Court’s letter does not allow the Committee to assume that the examination included sufficient consideration of the merits in accordance with the information provided to the Committee by both the author and the State party. Consequently, the Committee considers that there is no obstacle to its examining the present communication under article 5, paragraph 2 (a), of the Optional Protocol.”
Die aktuelle Gestaltung der Einzelrichterverfahren beim Gerichtshof widerspricht außerdem der eigenen Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Recht auf faires Verfahren, Gebot des rechtlichen Gehörs) in Bezug auf die Entscheidungen anderer Gerichte.
So betonnt der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung, dass die Gewährleistung eines fairen Verfahren die Begründung und Bekanntgabe jeder Entscheidung voraussetzt, Hadjianastassiou ./. GR, A 252 (1992), Ziff. 33=EuGRZ 1993, 70. Dort heißt es hierzu:
„33. The Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the appropriate means to ensure that their judicial systems comply with the requirements of Article 6 (art. 6). The national courts must, however, indicate with sufficient clarity the grounds on which they based their decision. It is this, inter alia, which makes it possible for the accused to exercise usefully the rights of appeal available to him.“
In der Sache Klaus Günter ANNEN ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 3690/10) führt der Gerichthof aus, dass die Bezeichnung der Beschwerde durch das Bundesverfassungsgerichts als „unzulässig“ für den Gerichtshof unbeachtlich sei, falls diese Entscheidung nicht begründet wurde:
„Unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen merkt der Gerichtshof an, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht vom wesentlichen Inhalt her die Rügen geltend gemacht hat, mit denen später der Gerichtshof befasst wurde. Es ist nicht ersichtlich, dass er ein besonderes Formerfordernis für die Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde nicht erfüllt hat. Der Gerichtshof vermag in der vorliegenden Rechtssache nicht festzustellen, aus welchem Grund die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers für unzulässig erklärt wurde“.