Artikel 6

Recht auf ein faires Verfahren

(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug

auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder

über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage

von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht

  • in einem fairen Verfahren,
  • öffentlich und
  • innerhalb angemessener Frist

verhandelt wird.

(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

  1. a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.

Was beinhaltet das Recht auf ein faires Verfahren?

Das Recht auf ein faires Verfahren soll ein Verfahren gewährleisten, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Standpunkt vertreten können. Dazu gehören u.a.:

  • der Anspruch auf rechtliches Gehör
  • das Recht des Angeklagten auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung
  • das Recht auf Akteneinsicht sowie
  • das Recht auf Begründung von gerichtlichen Entscheidungen.

Können die Fehler bei Beweisaufnahme und Beweiswürdigung gerügt werden?

Besonders im Strafprozess stellt sich die Frage, ob die Beweiswürdigung des Gerichts als Verstoß gegen ein faires Verfahren gerügt werden kann. Denn selbst nach dem innerstaatlichen Recht, ist die Beweiswürdigung die Sache des Tatrichters und kann in einer Revisionsinstanz nur unter bestimmten Voraussetzungen mit Erfolg gerügt werden. Der Ausgangspunkt ist der, dass die Aufstellung gesetzlicher Regelungen über die Zulassung von Beweismitteln  den Konventionsstaaten vorbehalten ist. D.h., dass sich die Frage der Beweislast der Verwertbarkeit von Beweismitteln und deren Erheblichkeit und Beweiswert nach dem innerstaatlichen Recht bestimmt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann nur feststellen, ob Beweisaufnahme und Beweiswürdigung vom Gericht in einer Weise vorgenommen wurden, welche das gesamte Strafverfahren als unfair erscheinen lassen. Das ist z. B. nicht der Fall, wenn nicht  alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten  erhoben wurden, sodass die Verteidigung Gelegenheit hat, Fragen zu stellen.

Hier sind Entscheidungen, die u.a. die Frage der Beweiswürdigung durch Strafgericht behandeln:

  • Fehlerhaftes Strafverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs
  • Strafverfahren: Verurteilung aufgrund Aussage eines Informanten der Polizei
  • Macht eine  Beweiserlangung durch Lockspitzel das Verfahren unfair?

Besonders in Betäubungsmittelsachen kommt oft vor, dass die Hauptbeweisquelle anonyme Informantinnen und verdeckte Ermittler sind. Die Zeugenaussagen von diesen Personen sind dann im Strafprozess Beweismitteln, die allerdings als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden. Es stellt sich daher die Frage, ob das öffentliche Interesse an der Verurteilung  den Gebrauch von solchen Beweismitteln rechtfertigt. Der von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelte Grundsatz ist, dass der  Rückgriff auf Quellen wie anonyme Informantinnen und verdeckte Ermittler im Stadium strafrechtlicher Ermittlungen kann durch die Besonderheit der Straftat  gerechtfertigt sein, das Verhalten von „Lockspitzeln" keine unzulässige Anstiftung sei, wenn eine Person bereits willens sei, Verbrechen einer bestimmten Kategorie zu begehen von einer Fairness des Strafverfahrens kann grundsätzlich dann nicht mehr die Rede sein, wenn die/der Angeklagte von einem agent provocateur zu einer Straftat, die sie/er sonst nie begangen hätte, angestiftet wurde. Er hat die Frage allerdings noch nicht "endgültig" entschieden. In der Entscheidung vom 28.6.1995 im Fall Müller vs Österreich (NL 1995, 181) hat die damalige EKMR offen gelassen, ob der Einsatz eines agent provocateur mit der Konvention überhaupt vereinbar ist, jedoch sich jedenfalls der Argumentation der österreichischen Gerichte, wonach das Verhalten von „Lockspitzeln" keine unzulässige Anstiftung sei, wenn eine Person bereits willens sei, Verbrechen einer bestimmten Kategorie zu begehen, ausdrücklich angeschlossen.

Was bedeutet das Recht auf angemessene Verfahrensdauer?

Entscheidung innerhalb angemessener Frist Art 6 I EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten zu einer zügigen Verfahrensführung. Konkrete Zeitgrenzen sind allerdings nicht vorgesehen. die Frage, ob die Verfahrensdauer angemessen ist, beurteilt sich im Einzelfall aufgrund folgender Kriterien:

  • Umfang und die Schwierigkeit (Komplexität) des Falles
  • seine Behandlung durch die nationalen Behörden und Gerichte
  • das Verhalten der Beschwerdeführerin / des Beschwerdeführers sowie
  • die Bedeutung des Verfahrens für die/den Betroffene/n.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss eine überlange Verfahrensdauer in Strafsachen als Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden. In seinem Grundsatzurteil im Fall Kudla vs Polen hat der EGMR eine Verletzung von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) festgestellt, da dem Beschwerdeführer nach innerstaatlichem Recht ein Rechtsmittel gegen unangemessen lange Verfahrensverzögerungen seitens der Justiz nicht zur Verfügung stand. Der Bf. verfügte demnach über keinerlei innerstaatliches Rechtsmittel, mit dem er sein Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 6 (1) EMRK wahrnehmen konnte. Die Staaten sind verpflichtet, ihre Gerichtsbarkeit so zu organisieren, dass Verfahren innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens abgeschlossen werden können.

Auch nach deutschem Recht stand lange Zeit den Betroffenen kein effektiver Rechtsbehelf für eine wirksame Beschwerde nach Artikel 6 in Bezug auf die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens zur Verfügung. Darauf wurde die Bundesrepublik Deutschland schon mehrmals hingewiesen und aufgefordert, ein  Gesetzgebungsverfahren zur Einführung eines wirksamen Rechtbehelfs einzuleiten. Nunmehr ist das in Deutschland geregelt.

Viele Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Rüge der überlangen Verfahrensdauer und fehlendem Rechtsmittel dagegen richten sich gegen die Bundesrepublik Deutschland. Hier sind einige Beispiele:

 

  • Rüge der überlangen Verfahrensdauer eines Zivilverfahrens (sechs Jahren und vier Monaten)
  • Rüge der überlangen Verfahrensdauer in einer Familiensache
  • Schadensersatz wegen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Straftäters
  • Rüge der überlangen Verfahrensdauer eines Disziplinarverfahrens (dreizehn Jahre und vier Monate für ein Disziplinarverfahren und drei Instanzen)
  • Was bedeutet Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit des Gerichts?