Artikel 10: Freiheit der Meinungsäußerung
- Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, dass die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.
- Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind.
Verletzungen der durch Art 10 EMRK geschützten Meinungsäußerungsfreiheit kommen oft vor. Berührt wird die Meinungsäußerungsfreiheit z.B. in medienrechtlichen Verfahren, in Verfahren wegen übler Nachrede oder Beleidigung, im Wettbewerbsrecht.
Die Meinungsäußerungsfreiheit umfasst jede Form der Meinungsäußerung (Wort, Schrift, Bild) unabhängig vom verwendeten Medium (Printmedien, Fernsehen, Radio, Bücher, Filme, Flugblätter, Gemälde, mündliche Äußerung, ...) und vom Inhalt der zum Ausdruck gebrachten Information oder Idee. Art 10 EMRK schützt dabei nicht nur das gesprochene oder geschriebene Wort, sondern jede Manifestation einer Meinung, unabhängig davon, mit welchen Mitteln diese nach außen kommuniziert wird. Daher können auch etwa Gesten oder symbolische Verhaltensweisen (z.B. das Tragen einer Uniform, das Verbrennen einer Flagge, langsames Gehen zur Behinderung einer Jagd) in den Anwendungsbereich der Meinungsäußerungsfreiheit fallen.
Art 10 EMRK schützt als Bestandteile des Rechts auf freie Meinungsäußerung im weiteren Sinn die folgenden Freiheiten:
- Meinungsäußerungsfreiheit im engeren Sinn
Geschützt wird Weitergabe von Informationen und Ideen, auch solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Dabei müssen sie nicht einen wertvollen Beitrag zu einem Thema von allgemeinem Interesse leisten. Geschützt wird etwa auch kommerzielle Werbung, Pornographie oder verhetzende Reden. Der Inhalt einer Äußerung wird erst bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant.
Ob die Kritik im Einzelfall von der Meinungsäußerungsfreiheit geschützt ist, oder einen unberechtigten persönlichen Angriff darstellt, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit.
- Pressefreiheit (incl. Schutz journalistischer Quellen)
Für die Pressefreiheit gelten im Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit im Allgemeinen Besonderheiten. So ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die besondere Bedeutung der Presse für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften zu berücksichtigen.
- Rundfunkfreiheit
Die Rundfunkfreiheit umfasst Fernsehen und Hörfunk.
- Aktive und passive Informationsfreiheit
Während die aktive Informationsfreiheit das Recht gewährt, Informationen und Ideen zu verbreiten und sich damit weitgehend mit der Meinungsäußerungsfreiheit deckt, garantiert die passive Informationsfreiheit das Recht auf Zugänglichkeit und Empfang von Informationen.
- Wissenschaftsfreiheit
Der durch Art 10 EMRK gewährte Schutz der wissenschaftlichen Meinungsäußerung umfasst sowohl die wissenschaftliche Publikation als auch die Lehre.
- Kunstfreiheit
Zwar wird die Freiheit der Kunst in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, doch schützt diese Bestimmung auch das künstlerische Wirken und die Kommunikation zwischen Künstler und Rezipienten. Der EGMR geht dabei von einem offenen Kunstbegriff aus, der nicht auf bestimmte Inhalte oder Formen begrenzt ist. Mitumfasst ist also auch das Hässliche, Schockierende und Provokante.
Grundrechtsschranken
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird nicht uneingeschränkt garantiert, sondern steht unter einem materiellen Gesetzesvorbehalt. Nach Art 10 Abs. 2 EMRK ist ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit zulässig, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, einem der in Art 10 Abs. 2 EMRK genannten legitimen Ziele dient und zur Erreichung dieses Ziels „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" also verhältnismäßig ist. Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit ist jede staatliche Handlung, durch die eine Person
an der Ausübung ihrer durch Art 10 Abs. 2 EMRK geschützten Rechte gehindert oder die Ausübung dieser Rechte sanktioniert wird.
Das sind z.B.:
- Verurteilungen wegen eines Ehrenbeleidigungsdelikts
- die Einziehungen von Medienwerken
Auch durch behördliche (vor allem gerichtliche) Entscheidungen bei den Auseinandersetzungen zwischen Privatpersonen kann in die Meinungsäußerungsfreiheit eingegriffen werden. Daher sind etwa auch bei Unterlassungsklagen oder wettbewerbsrechtlichen Verfahren die Vorgaben des Art 10 Abs. 2 EMRK zu beachten.
Ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit ist nur unter den folgenden Voraussetzungen zulässig:
- Gesetzliche Grundlage
- Legitimes Ziel ( z.B.: Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer )Verhältnismäßigkeit ( Abwägung der Umstände des konkreten Einzelfalls). Dabei gilt: je mehr die umstrittene Äußerung zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beiträgt, desto mehr Schutz sie beansprucht.
Fallbeispiele
- In einem Zeitschriftenartikel wird der Parteiaustritt vermeintlicher „Kellernazis" aus der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Anfang der 1980er Jahre sowie deren spätere Rückkehr und Kandidatur für politische Ämter abgehandelt. Der Autor des Artikels nennt in diesem Zusammenhang mehrere Namen zum Nachweis dafür, dass eine behauptete Abgrenzung der Partei von der extremen Rechten tatsächlich nie stattgefunden habe. Eine der Genannten erhebt daraufhin Privatanklage gegen den Verfasser wegen übler Nachrede und beantragt eine medienrechtliche Entschädigung nach § 6 MedienG Österreichs seitens des Herausgebers des Magazins. Die innerstaatlichen Gerichte gaben der Klage statt. Der EGMR stellte fest, dass die Verwendung des Begriffs „Kellernazi" nicht die Grenzen des unter den gegebenen Umständen Akzeptablen überschreitet. Die nationalen Gerichte haben den Eingriff in Art 10 EMRK nicht hinreichend begründet und den engen Ermessensspielraum bei der Einschränkung einer Debatte öffentlichen Interesses überschritten. Deshalb war der Eingriff unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.
- Ein Journalist kritisiert in einem Kommentar einen Professor der Politikwissenschaft für einen Artikel, in dem dieser die Verbrechen des NSRegimes verharmlost und behauptet, die Juden hätten Deutschland den Krieg erklärt. Als der Professor wegen dieser Veröffentlichung nach dem Verbotsgesetz angeklagt wird, begeht er Selbstmord. Daraufhin wird dem Journalisten in einer rechtsgerichteten Zeitschrift vorgeworfen, eine „Menschenhatz" gegen den Professor eröffnet zu haben, die diesen schließlich „in den Selbstmord getrieben" hätte. Der Journalist erhebt daraufhin Unterlassungsklage gegen den Autor dieser Zeilen wegen übler Nachrede und beantragt eine medienrechtliche Entschädigung nach § 6 MedienG Österreichs. Die innerstaatlichen Gerichte haben die Klage abgewiesen. Im Gegensatz zu obigem Beispiel räumte der EGMR hier dem kritisierten Journalisten ein Recht auf Schutz vor Diffamierung ein, das gegenüber dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit überwog. Dabei war insbesondere ausschlaggebend, dass die Vorwürfe einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Artikel des Journalisten und dem Selbstmord des Professors unterstellten, der nicht bewiesen wurde. Der Unterlassungsklage hätte daher stattgegeben werden müssen.
Meinungsäußerungsfreiheit versus Persönlichkeitsrechte
Die größte praktische Bedeutung spielt die Meinungsäußerungsfreiheit im Zusammenhang mit jenen Vorschriften, die
dem Schutz des gutes Rufs ,der Privatsphäre, dem Schutz der Unschuldsvermutung oder dem Recht am eigenen Bild
dienen. Die oft vorkommenden Fälle sind Verurteilungen von Journalisten bzw. Medienunternehmen wegen kritischer Artikel. Bei diesen Konstellationen geht es stets um die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Das wichtigste Kriterium ist dabei, ob die jeweilige Veröffentlichung zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistet oder nur noch rein ökonomische Interessen verfolgt vertreten bzw. nur die Neugier bestimmter Lesergruppen befriedigen will. In letzten 2 Fällen tritt die Meinungsäußerungsfreiheit regelmäßig hinter das Interesse an der Wahrung der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte jener zurück, die unfreiwillig zu Objekten der Berichterstattung wurden.