Ist die Bundesrepublik uneingeschränkt zur Auslieferung im Wege der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle verpflichtet, wenn im Ausstellungsstaat menschenunwürdige Haftbedingungen festgestellt wurden?
Stand 03.03.2016 (SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS YVES BOT vom 3. März 2016 Rechtssachen C‑404/15 und C‑659/15 PPU Pál Aranyosi (C‑404/15) und Robert Căldăraru (C‑659/15 PPU) (Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 08. Dezember 2015, 1 Ausl. A 23/15)
Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten : Verbot menschenunwürdiger Behandlung in der Haft
Nach Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dazu gehört auch das Verbot menschenunwürdiger Behandlung in der Haft. Dieses Verbot gilt absolut und unterliegt keinen Beschränkungen.
Menschenunwürdige Haftbedingungen in einigen EU-Mitgliedstaaten versus gegenseitige Auslieferungsverpflichtung zur Vollstreckung Europäischer Haftbefehle
Nach der aktuellen Auskunftslage bestehen jedoch in einigen EU-Mitgliedstaaten (z. B. Ungarn, Rumänien) beachtliche Anhaltspunkte dafür, dass der Verfolgte bei seiner Auslieferung Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die Art. 3 EMRK, die Grundrechte des Verfolgten und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union niedergelegt sind, verletzen würden. Nach dem Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) gilt aber der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschluss berührt dieser zwar nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten. Was damit konkret gemeint ist, ist aber unklar. Insbesondere wurde noch nicht entschieden, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschluss eine Ausnahme vom Grundsatz der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls schaffen wollte.
In dem Zusammenhang stellt sich folgende Frage:
Besteht (für Deutschland) eine uneingeschränkte Pflicht zur Auslieferung im Wege der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, auch dann, wenn die Auslieferung zu menschenunwürdiger Behandlung in der ausländischen Haft führen würde?
Anwendung in der Praxis
Bei der Auslieferung in die EU-Mitgliedstaaten mit allgemein bekannten menschenunwürdigen Haftbedingungen (so wie in Rumänien) lassen sich die Generalstaatsanwaltschaften praktisch nicht davon überzeugen, dass die Auslieferung unter o.g. Bedingungen gegen die Menschenrechte verstoßen würde und beantragen die Auslieferung bei zuständigen Gerichten (so im Fall des OLG Bremen). Die Gerichte erklären die Auslieferung für zulässig. Das passiert trotz aktuellen Entscheidungen des EGMR gegen Rumänien u.a. wegen der Überfüllung seiner Gefängnisse. Auch aus dem Bericht des Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarates vom 24.09.2015 (CPT/inf (2015) 32 ; CPT-Bericht) ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen, denen der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung nach Rumänien ausgesetzt sein könnte, nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprechen. Diese Wertung bezieht sich insbesondere auf die massive Überbelegung der Zellen, die bei den Besuchen vom 5. bis 17.06.2014 festgestellt worden sind. Nach dem Bericht standen einem Häftling in zahlreichen Zellen nur zwischen 1 und etwa 2 m² Lebensraum zur Verfügung. Die Haftzellen seien stark renovierungs- und sanierungsbedürftig, das Mobiliar und die Matratzen müssten ausgetauscht werden, die künstliche und natürliche Beleuchtung der Zellen seien unzureichend ebenso wie die Belüftung.
Der EGMR hat dagegen mehrfach entschieden, dass die Überbelegung einer Zelle als solche schon dann für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK ausreiche, wenn dem Einzelnen in der Haftzelle weniger als 3 m² zur Verfügung stehen. Auch bei Unterbringungen in Zellen mit 3-4 m² je Häftling hat der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK festgestellt, wenn zu dem Platzmangel Belüftungs-, Heizungs- oder Beleuchtungsdefizite oder das Fehlen elementarer Intimität – etwa aufgrund der Einsehbarkeit der Toilette für die Mithäftlinge – hinzutreten.
Endlich Fortschritt: Vorlagebeschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichtes in Bremen an das EuGH
Dem aktuellen Verfahren beim EuGH liegt der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichtes in Bremen vom 08. Dezember 2015, 1 Ausl. A 23/15 zu Grunde. In dem Verfahren geht es um die Auslieferung eines in Rumänien Verfolgten zur Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe nach Rumänien. Mit dem europäischen Haftbefehl hat das Amtsgerichts F (Rumänien) beantragt, den Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung festzunehmen und zu übergeben. Der Verfolgte wurde in Rumänien am 16.04.2015 durch das Amtsgericht in F wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Rumänien, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten rechtskräftig verurteilt. In jenes Urteil wurde eine zunächst zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei weiteren Fällen einbezogen. Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hat daraufhin beim Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären. Der Verfolgte hat sich mit seiner Auslieferung nach Rumänien nicht einverstanden erklärt. Der Senat musste dann gemäß §§ 29, 32 des deutschen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheiden. Das Auslieferungsverfahren wurde bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 267 Abs. 1 lit.a, Abs. 3 AEUV ausgesetzt. Der Verfolgte befindet sich in der Auslieferungshaft.
Worauf es ankommt
Die Entscheidung des Senats in diesem Verfahren hängt wesentlich von der Frage ab, ob das in Rede stehende Auslieferungshindernis im Einklang mit dem Rahmenbeschluss (noch) durch eine Zusicherung seitens des Auslieferungsstaats überwunden werden kann oder nicht. Kann das Auslieferungshindernis nicht durch eine derartige Zusicherung überwunden werden, wäre die Auslieferung im vorliegenden Fall unzulässig.
Vorlagefragen des OLG Bremen an das EuGH
Das OLG Bremen hat dem europäischen Gerichtshof daher gemäß § 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (C‑404/15 und C‑659/15):
1. Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl so auszulegen, dass eine Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung unzulässig ist, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte der betroffenen Person und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union niedergelegt sind, verletzen oder ist er so auszulegen, dass der Vollstreckungsstaat in diesen Fällen die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung von einer Zusicherung der Einhaltung von Haftbedingungen abhängig machen kann oder muss? Kann oder muss der Vollstreckungsstaat dazu konkrete Mindestanforderungen an die zuzusichernden Haftbedingungen formulieren?
2. Sind Art. 5 und Art 6 Abs. 1 des Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl so auszulegen, dass die ausstellende Justizbehörde auch berechtigt ist, Zusicherungen über die Einhaltung von Haftbedingungen zu machen oder verbleibt es insoweit bei der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates?
Auffassung des OLG Bremen zur Frage der Zulässigkeit der Auslieferung
Das OLG Bremen hatte gegen die Zulässigkeit der Auslieferung Bedenken. Zwar vollstrecken die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 1 Abs. 2. Die Auslieferung ist jedoch für unzulässig zu erklären, wenn ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 IRG besteht:
„Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.“
In Art. 6 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind. Nach Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dazu gehört auch das Verbot menschenunwürdiger Behandlung in der Haft.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteilen vom 10.06.2014 Rumänien u.a. wegen der Überfüllung seiner Gefängnisse verurteilt (EGMR, Urteil vom 10.06.2014 Application nos. 22015/10 Voicu/Rumänien, 13054/12 Bujorean/Rumänien, 79857/12 Mihai Laurentiu Marin/Rumänien, 51318/12 Constantin Aurelian Burlacu/Rumänien). Der Gerichtshof sah es als erwiesen an, dass der rumänische Staat mit der Unterbringung in den Haftanstalten Poarta Alba und Magineni (no. 22015/10) den Gefangenen in zu kleinen und überbelegten Haftzellen (unter 4 qm) ohne ausreichende Beheizung gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe. Im Verfahren no. 13054/12 wurde der Verstoß gegen Art. 3 EMRK durch die Unterbringung des Gefangenen in den Haftzellen der Haftanstalt Botosani in kleinen, überbelegten und verdreckten Haftzellen (kleiner 2 qm pro Häftling) ohne ausreichend warmes Wasser zum Duschen begründet. Ähnliches galt im Verfahren no. 22015/10 und no. 51318/12 für die Haftanstalt Rahova. Die Gefangenen mussten sich Haftzellen von 9 qm mit 10 Insassen teilen und Haftzellen von 24 qm wurden mit 10 Betten belegt. Auch aus dem CPT-Bericht ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen, denen der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung nach Rumänien ausgesetzt sein könnte, nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprechen.
Der Senat sieht sich auf der Grundlage dieser Informationen nicht in der Lage zu entscheiden, ob die Auslieferung im Hinblick auf die durch § 73 IRG und Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl gesetzten Grenzen zulässig ist.
Das vorlegende Gericht ist außerdem der Auffassung, dass vor diesem Hintergrund eine lediglich pauschale Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaates, dem Verfolgten Haftbedingungen zu gewähren, die den Vorgaben der EMRK und den sonstigen in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl entsprechen, nicht genügen dürfte. Denn dazu ist er als Mitglied der Europäischen Union und des Europarates ohnehin bereits verpflichtet. Erforderlich sein wird eher eine Zusicherung konkreter Haftbedingungen für die jeweils verfolgte Person.
Der Vorschlag des Generalanwaltes beim EuGH vom 03.03.16
Der Generalanwalt folgte der Auffassung des OLG Bremen und schlug dem Gerichtshof vor, die Fragen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen wie folgt zu beantworten:
Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er keinen auf der Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der übergebenen Person im Ausstellungsmitgliedstaat beruhenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel erlassenen Europäischen Haftbefehls darstellt.
Die ausstellenden Justizbehörden müssen eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vornehmen, um das Erfordernis des Erlasses eines Europäischen Haftbefehls im Hinblick auf die Art der Straftat und die konkreten Modalitäten der Strafvollstreckung anzupassen. Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren, die durch systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat gekennzeichnet sind, ist die vollstreckende Justizbehörde berechtigt, von der ausstellenden Justizbehörde, gegebenenfalls über die zuständigen nationalen Stellen, alle sachdienlichen Auskünfte zu verlangen, die es ihr ermöglichen, anhand der konkreten Umstände jedes Einzelfalls zu beurteilen, ob die Übergabe der gesuchten Person geeignet ist, sie unverhältnismäßigen Haftbedingungen auszusetzen.
Zudem ist es Sache des Ausstellungsmitgliedstaats, im Einklang mit den Verpflichtungen aus Art. 6 EUV und den ihm nach den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit obliegenden Pflichten alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der gebotenen strafpolitischen Reformen, zu ergreifen, um dafür zu sorgen, dass die übergebene Person ihre Strafe unter Bedingungen verbüßt, unter denen ihre Grundrechte gewahrt werden und sie zur Verteidigung ihrer individuellen Freiheiten von allen verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch machen kann.
Vorschlag des GENERALANWALTS YVES BOT vom 3. März 2016 über die konkreten Modalitäten der Anwendung des Europäischen Haftbefehls
„…. 167. Stellt die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage zuverlässiger tatsächlicher Angaben fest, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, muss sie die Möglichkeit haben, anhand der konkreten Umstände jedes Einzelfalls zu beurteilen, ob die Übergabe der gesuchten Person geeignet ist, sie unverhältnismäßigen Haftbedingungen auszusetzen.
168. Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um alle von ihr für sachdienlich erachteten Auskünfte ersuchen können. Wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung sollte sich die vollstreckende Justizbehörde meines Erachtens an ihre zuständige nationale Stelle wenden, damit diese unmittelbar Kontakt zur zuständigen nationalen Stelle im Ausstellungsmitgliedstaat aufnimmt, und die Antworten sollten ihr auf demselben Weg übermittelt werden.
169. Ein zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Europäischer Haftbefehl sollte meines Erachtens als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die Vollstreckungsbedingungen nicht zu körperlich relevanten Konsequenzen führen, die in keinem Verhältnis zu denen stehen, die einträten, wenn die verhängte Strafe unter normalen Bedingungen vollstreckt würde.
170. Ein zur Strafverfolgung erlassener Europäischer Haftbefehl ist verhältnismäßig, wenn seine Vollstreckungsbedingungen mit dem alleinigen Erfordernis vereinbar sind, dafür zu sorgen, dass die gesuchte Person der Justiz zur Verfügung steht. In seinem Urteil Ladent/Polen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Übrigen entschieden, dass der Erlass eines Europäischen Haftbefehls wegen der Begehung einer Straftat, bei der die Untersuchungshaft normalerweise als unangemessen angesehen würde, aus dem Blickwinkel der in Art. 5 EMRK enthaltenen Garantien zu unverhältnismäßigen Folgen für die Freiheit der gesuchten und zu verhaftenden Person führen kann.
171. Schließlich ist klar, dass die durch die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses gebotenen Möglichkeiten systematisch geprüft werden müssen.
172. Sollte die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit mit einer besonderen Beurteilungsschwierigkeit konfrontiert werden, müsste sie den Gerichtshof anrufen, der allein für die Entscheidung über diesen unionsrechtlichen Gesichtspunkt zuständig ist.
173. Jedenfalls darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in erster Linie der ausstellenden Justizbehörde obliegt. Da es sich dabei um die Umsetzung des Unionsrechts handelt, muss sie dies tun, auch wenn sie deshalb ihre nationalen Rechtsvorschriften, die das Legalitätsprinzip vorsehen, unangewendet lassen muss, denn es geht hier darum, im Einklang mit dem Unionsrecht zu entscheiden, dessen Vorrang auch hinsichtlich der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses gilt.
174. Überdies wären, wenn diese Kontrolle stattfände, Fragen wie die in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen unbestreitbar selten.
175. Mir ist nicht entgangen, dass der Standpunkt, den der Gerichtshof meines Erachtens einnehmen sollte, teilweise darauf hinausläuft, von ihm zu verlangen, sich wie ein Gerichtshof für Menschenrechte zu verhalten. Im Bereich des Strafrechts scheint mir, dass dieser Ansatz eines Tages ins Auge gefasst werden muss.
176. Ich kann allerdings nicht unerwähnt lassen, dass die Situation, in der wir uns heute befinden, auch die Folge eines fatalen Versäumnisses sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Unionsorgane ist.
177. Es sollte nicht des Hinweises bedürfen, dass jeder Mitgliedstaat im Einklang mit Art. 6 EUV verpflichtet ist, die Achtung der Grundrechte zu garantieren. Diese Pflicht folgt, wie wir gesehen haben, nicht nur aus dem gegenseitigen Vertrauen, sondern auch aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. In seinem Urteil Pupino (C‑105/03, EU:C:2005:386) hat der Gerichtshof im Übrigen ausdrücklich festgestellt, dass die Union „ihre Aufgabe kaum erfüllen [könnte], wenn der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der insbesondere bedeutet, dass die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Recht der … Union treffen, nicht auch im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gelten würde, die im Übrigen vollständig auf der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen beruht …“
178. Wenn wir von den vollstreckenden Justizbehörden verlangen, unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren die gesuchte Person zu übergeben, impliziert der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Gegenzug, dass die ausstellenden Justizbehörden, denen dieses Vertrauen entgegengebracht wird, und insbesondere der Mitgliedstaat, dem die gesuchte Person übergeben wird, alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der gebotenen strafpolitischen Reformen, ergreifen, um dafür zu sorgen, dass diese Person ihre Strafe unter Bedingungen verbüßt, unter denen ihre Grundrechte gewahrt werden und sie zur Verteidigung ihrer individuellen Freiheiten von allen verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch machen kann.
179. Insoweit kann ich die von Ungarn und Rumänien in diesem Sinne eingegangenen Verpflichtungen nur begrüßen.
180. Ferner ist angesichts der sehr hohen Zahl beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegter Individualbeschwerden festzustellen, dass die in Ungarn und Rumänien vorgesehenen Rechtsbehelfe den Personen, die materiellen Haftbedingungen ausgesetzt sind, mit denen gegen die in Art. 3 EMRK enthaltenen Garantien verstoßen wird, die Sicherstellung des Schutzes ihrer Grundrechte ermöglichen.
181. Schließlich sehe ich keine andere Lösung als die Stärkung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls durch das Tätigwerden der Unionsorgane. Zwar hat die Kommission im Jahr 2011 unerfreuliche Feststellungen zu den Haftbedingungen in einigen Mitgliedstaaten und den Konsequenzen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses getroffen, doch ist weder der Rat noch sie tätig geworden, um zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten alle ihre Verpflichtungen erfüllen oder zumindest die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.“