Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Entscheidung im Volltext (deutsch)

Trägt die Verbreitungsaktion von Flugblättern im unmittelbaren Umkreis einer Arztpraxis und die namentliche Benennung von zwei Ärzten, die lediglich, wie viele andere Gynäkologen in Deutschland, die Abtreibungen durchführen dem öffentlichen Interesse bei oder bedeutet dies eine kontinuierliche Zerstörung des beruflichen Ansehens von betroffenen Ärzte, die nicht mehr vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist?

Nach der Auffassung der 5 Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Verbreitungsaktion von öffentlichem Interesse; 2 Richter sehen darin eine Bloßstellung von betroffenen Ärzten, die vom Recht auf Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckt ist.

 

Klaus Günter ANNEN ./. Deutschland

(Individualbeschwerde Nr. 3690/10)

 

URTEIL

 

STRASSBURG

 

  1. November 2015

Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 3690/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die Herr Klaus Günter ANNEN, deutscher Staatsangehöriger. („der Beschwerdeführer“) im Jahr 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof erhoben hatte.

Der Beschwerdeführer rügte, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei, indem die deutschen Gerichte ihm die Verbreitung von Flugblättern im unmittelbaren Umkreis einer Arztpraxis verboten haben, die Äußerungen enthielten, die Schwangerschaftsabbrüche durch die namentlich benannten Ärzte würden außerhalb des gesetzlichen Rahmens durchgeführt.

Der Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist ein deutscher Abtreibungsgegner und Betreiber der Webseite babykaust.de. Im Jahre 2005 verteilte er Flugblätter im unmittelbaren Umkreis der ärztlichen Praxis Dr. M. und Dr. R., die eine Tagesklinik betreiben. Darüber hinaus warf der Beschwerdeführer in alle Briefkästen in der Nachbarschaft der Tagesklinik Flugblätter ein.

 

Die Abtreibungen machten nur einen geringen Teil der Leistungen der Praxis aus. Es gaben weder Anhaltspunkte dafür, dass die Schwangerschaftsabbrüche nicht in Übereinstimmung mit den entsprechenden Regeln durchgeführt wurden noch, dass den Ärzten Behandlungsfehler unterlaufen sind. Eine Werbung über die Abtreibungsleistungen fand nicht statt.

 

Das Deckblatt der Flugblätter enthielt den folgenden Text in Fettdruck:

„In der Tagesklinik Dr. M./Dr. R. [vollständige Namen und Anschrift] werden rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt“.

Darauf folgte in kleinerer Schriftgröße die Erklärung:

„die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt. Der Beratungsschein schützt „Arzt“ und Mutter vor Strafverfolgung, aber nicht vor der Verantwortung vor Gott.“

In einem Kasten darunter stand folgender Text:

„Sinngemӓβ aus den internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsӓtzliche „Zu-Tode-Bringen” eines unschuldigen Menschen!”

Auf der Rückseite des gefalteten Flugblatts zitierte der Beschwerdeführer das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung sowie eine Äußerung von Christoph Wilhelm Hufeland, dem Leibarzt von Goethe und Schiller, zur Rolle der Ärzte im Zusammenhang mit freiwilliger Euthanasie und Abtreibung. Ferner zitierte er § 12 Abs. 1 des Schwangerschaftskonkfliktgesetzes und forderte die Leser auf, auf diejenigen einzuwirken, die Abtreibungen durchführten bzw. daran mitwirkten.

Auf der Rückseite des gefalteten Flugblatts befand sich ferner der folgende Text:

„Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.“

Unter diesem Satz befand sich ein Verweis auf die Website babycaust.de. Diese Website enthielt u. a. eine Adressenliste so genannter „Abtreibungsärzte“, in der die Tagesklinik und die vollständigen Namen von Dr. M. und Dr. R. aufgeführt waren. Diese Liste war auf der Website unter dem Link „Leben oder Tod“ / „Gebetsanliegen für Deutschland“ verfügbar.

 

Die Aktion führte zur Schließung der betroffenen Arztpraxis.

 

Das Gerichtsverfahren in Deutschland:

Dr. M. und Dr. R. stellten einen Antrag auf Erlass einer gerichtlichen Unterlassungsanordnung gegen den Beschwerdeführer. In ihrer Tagesklinik seien ausschließlich rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Im Januar 2007 erließ das Landgericht Ulm die beantragte Unterlassungsanordnung, weil die Äußerungen auf dem Flugblatt des Beschwerdeführers die unzutreffende Behauptung enthielten, die Schwangerschaftsabbrüche würden außerhalb des gesetzlichen Rahmens durchgeführt. Die Behauptungen des Beschwerdeführers hätten die Persönlichkeitsrechte der Kläger, die das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung überwiegen, schwer verletzt.

Es sei eine Verbindung zwischen den Klägern und Holocaust - Verbrechen hergestellt worden; dies sei von der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht gedeckt und müsse von den Klägern daher nicht hingenommen werden.

Das Oberlandesgericht Stuttgart die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es kome nicht darauf an, ob der Text auf den Flugblättern als Tatsachenbehauptung oder als Meinungsäußerung zu qualifizieren sei, denn die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers habe in jedem Fall zurückzutreten.

Das Oberlandesgericht ließ die Revision nicht zu.

Der Bundesgerichtshof wies den Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers ab, weil seine beabsichtigte Revision keine ausreichende Erfolgsaussicht habe. Eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof hat der Beschwerdeführer nicht erhoben, sondern die Verfassungsbeschwerde.

Im Jahr 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 674/08). In seiner Beschwerde zum EGMR rügte der Beschwerdeführer, dass die deutschen Gerichte sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt haben. Zur Begründung verwies er auf seine Ausführungen in der Verfassungsbeschwerde.

Unter Vorlage von Belegen forderte der Beschwerdeführer insgesamt 13.696,87 Euro für die in dem zivilgerichtlichen Verfahren entstandenen Kosten und Auslagen. Darüber hinaus forderte er 2.403,80 Euro für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten und Auslagen.           

Zulässigkeit der Beschwerde

VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

Der EGMR erklärte die Beschwerde für zulässig. Die Beschwerde sei hinlänglich substantiiert und der innerstaatliche Rechtsweg sei erschöpft. 

Zunächst stand der Zulässigkeit nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer bei der Einreichung seiner Rüge lediglich auf die Ausführungen in seiner Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht verwiesen hat, ohne ein weiteres Vorbringen im Rahmen der Konvention zu formulieren. Denn der Beschwerdeführer hat die Tatsachengrundlage der Beschwerde sowie die Art der behaupteten Konventionsverletzung benannt. Nach Überzeugung des Gerichtshofs hat der Beschwerdeführer daher die Anforderungen, die an die Erhebung einer hinlänglich substantiierten Rüge gestellt werden, erfüllt.

Des Weiteren stand der Zulässigkeit nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Revision nicht zuzulassen, keine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt habe (nachdem sein Antrag auf Prozesskostenhilfe durch den BGH zurückgewiesen wurde).  Denn in Anbetracht der Gründe, die der Bundesgerichtshof für die Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuchs vorgebracht hat, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass man dem Beschwerdeführer nicht vorwerfen kann, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe dadurch nicht erschöpft zu haben, dass er das Revisionsverfahren nicht weiter betrieb. Die fünf Richter des Bundesgerichtshofs, die den PKH-Gesuch zurückgewiesen hatten, wären auch für die Entscheidung auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zuständig und würden diese ebenfalls abgelehnen. Die evtl. Nichtzulassungsbeschwerde hätte somit keine Erfolgsaussichten gehabt. Die Erhebung eines von vornherein aussichtslosen Rechtbehelfs kann aber von niemanden verlangt werden. 

Schließlich stand der Zulässigkeit nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen hat. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers für unzulässig, ohne jedoch darzulegen, welche Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerdeführer nicht erfüllt hatte. Es ist daher für den Gerichtshof aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht klar aber auch im Übrigen nicht ersichtlich, welches Formerfordernis der Beschwerdeführer für die Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde nicht erfüllt hat. Die Bezeichnung der Beschwerde durch das  Bundesverfassungsgerichts als „unzulässig“ ist daher für den Gerichtshof unbeachtlich.

Begründetheit der Beschwerde

Das Recht auf freie Meinungsäußerung haben die deutschen Gerichte  nach Auffassung des EGMR verletzt (mit fünf zu zwei Stimmen, abweichende Meinung s. unten). 

Das Recht der Ärzte auf Schutz des Rufes ist durch Artikel 8 der Konvention im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt.  Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, muss der Gerichtshof feststellen, ob die innerstaatlichen Behörden einen gerechten Ausgleich herbeigeführt haben.

Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass – obwohl die Gestaltung des Flugblatts eindeutig dazu dienen sollte, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den ersten Satz in Fettdruck zu richten – der Wortlaut der weiteren Erklärung des Beschwerdeführers, wonach die Schwangerschaftsabbrüche nicht strafbar seien, hinreichend klar war, selbst aus Sicht eines Laien.

Zwar war die Aktion des Beschwerdeführers unmittelbar auf die beiden Ärzte gerichtet, eine solche personalisierte Art und Weise hat aber die Wirksamkeit der Aktion verstärkt.

Insgesamt gelangt der Gerichtshof im Hinblick auf den besonderen Schutz von Meinungsäußerungen, die im Rahmen einer Diskussion über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses getätigt werden und trotz des den Vertragsstaaten zugebilligten Beurteilungsspielraums zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichte keinen gerechten Ausgleich zwischen dem Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung und den Persönlichkeitsrechten der Ärzte herbeigeführt haben.

Es liegt daher ein Verstoß gegen Artikel 10 der Konvention vor.

Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigung in (beantragten) Höhe von 13.696,87 Euro zur Deckung der in dem zivilgerichtlichen Verfahren entstandenen Kosten und Auslagen zuzüglich der gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zu.

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION

Der Beschwerdeführer rügte außerdem eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren in Bezug auf das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Nach Ansicht des Beschwerdeführers haben beide Gerichte sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt, weil weder der Bundesgerichtshof noch das Bundesverfassungsgericht Gründe für ihre Entscheidungen angegeben hätten.

Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen [...] von einem [...] Gericht in einem fairen Verfahren [...] verhandelt wird. 

Der Gerichtshof erachtete diese Rüge als unbegründet.

Die „Begründung“ des Bundesverfassungsgerichts, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, „weil sie unzuläsig“ sei, sei ausreichend; ebenso die Ablehnung des PKH-Antrages durch den Bundesgerichtshof, dass der beabsichtigten Rechtsverfolgung die hinreichenden Erfolgsaussichten fehlen. 

GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTERINNEN YUDKIVSKA UND JÄDERBLOM

Auszug aus NICHTAMTLICHER ÜBERSETZUNG DES BUNDESMINISTERIUMS DER JUSTIZ UND FÜR VERBRAUCHERSCHUTZ IN DER RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND

„Es versteht sich von selbst, dass das Thema Abtreibung eine Frage von öffentlichem Interesse darstellt, und die Gesellschaft ist nach wie vor gespalten, was Abtreibungsrechte angeht. Daher würde eine vergleichbare, gegen die für die Regierungspolitik Verantwortlichen gerichtete Aktion insoweit zweifellos einen starken Schutz nach Artikel 10 rechtfertigen.

In der vorliegenden Rechtssache jedoch können wir schwerlich zustimmen, dass die Schwelle des öffentlichen Interesses erreicht ist, wenn von normalen Ärzten die Rede ist, die lediglich, wie viele andere Gynäkologen in Deutschland auch, ihre beruflichen Tätigkeiten in strikter Übereinstimmung mit den entsprechenden Regeln ausüben. Welches Interesse hatte die Allgemeinheit daran, (a) in Bezug auf ihre berufliche Integrität in die Irre geführt zu werden (das erste Wort, mit dem das Flugblatt ihre Tätigkeiten beschrieb, war „rechtswidrig“), und (b) dass die Adresse ihrer Tagesklinik im Internet in einem – gelinde gesagt –sehr negativen Kontext veröffentlicht wurde?

Zwei Ärzte wurden herausgegriffen, um in dem von dem Beschwerdeführer geführten Kampf gegen die Fortpflanzungsfreiheit von Frauen als Opfer zu fungieren; das, was der Beschwerdeführer den beiden Ärzten vorgeworfen hat, war nicht mehr und nicht weniger als das, was auch andere Ärzte tun. Die Form und die Intensität, die er für seine Aktion wählte, führten zu einem Ergebnis, das beabsichtigt war – die Ärzte mussten ihre Praxis schließen, was eine natürliche Konsequenz aus diesen Umständen war.

Tatsächlich erwies sich die Aktion des Beschwerdeführers als kontraproduktiv: Sie schloss Frauen im Umkreis der Praxis von einem breiten Spektrum gynäkologischer Leistungen aus, die nicht zum Bereich der Abtreibung gehören. Wie sich aus den Unterlagen in der Verfahrensakte ergibt, machten Abtreibungen nur einen geringen Teil der Leistungen der Praxis aus.

Wir teilen die Auffassung der Mehrheit nicht, dass sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November 2010 mit „nahezu identischen Fragestellungen“ befasse. Dieses Gericht unterstrich in seinem Urteil den entscheidenden Unterschied: In jener Rechtssache hatte der Arzt die Abtreibungsleistungen selbst im Internet öffentlich beworben und sich damit bewusst der Kritik der Abtreibungsgegner ausgesetzt.

Die Bloßstellung der beiden Ärzte an sich trug nichts zu der Frage von öffentlichem Interesse bei. Gleichwohl ist es dem Beschwerdeführer gelungen, sie zu dämonisieren, indem er ihre Namen mit Begriffen vermischte, die mit dem schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind – „Holocaust”, „Auschwitz”, „Nazi”. Es mag vielleicht als künstlerisches Mittel akzeptabel sein, die massenhafte Abtreibung als solche allgemein zu beschreiben (und aus diesem Grund wurde auch die Website des Beschwerdeführers nicht gelöscht), jedoch nicht mit Bezug auf einzelne Ärzte, die ihre normalen Tätigkeiten korrekt ausüben.

Wichtig zu erwähnen ist auch, dass der Beschwerdeführer für seine Handlungen nicht zur Verantwortung gezogen wurde und dass seine Website immer noch vollständig in Betrieb ist, wenn auch ohne die Namen der beiden Ärzte und die Adresse ihrer früheren Praxis. Die Unterlassungsanordnung bezüglich der Website wirkte sich weder auf das Recht des Beschwerdeführers, seine Website weiter zu betreiben, noch auf seine dort geäußerte Kritik an der Abtreibung aus, sondern war auf die Veröffentlichung der persönlichen Daten der Kläger beschränkt. Was die Flugblätter angeht, beschränkte sich das Verbot auf die Verbreitung im unmittelbaren Umkreis der Praxis, und nichts hinderte den Beschwerdeführer daran, seine Kritik an den Klägern andernorts zu verbreiten. In Anbetracht ihrer sehr geringen Wirkung kann man nicht sagen, dass die Unterlassungsverfügungen den Beschwerdeführer übermäßig belasteten.

Aus diesen Gründen können wir nicht feststellen, dass das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde. 

Das Recht auf freie Meinungsäußerung

Zitat aus NICHTAMTLICHER ÜBERSETZUNG DES BUNDESMINISTERIUMS DER JUSTIZ UND FÜR VERBRAUCHERSCHUTZ IN DER RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND

(Individualbeschwerde Nr. 3690/10):

„Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und jüngst wie folgt zusammengefasst (siehe Delfi AS ./. Estland [GK], Individualbeschwerde Nr. 64569/09, Rdnr. 131, 16. Juni 2015 m. w. N.):

„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, [...] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden [...].

(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden, auch wenn sie von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Meinungsfreiheit in Einklang zu bringen ist.

(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei seiner Überwachung an die Stelle der zuständigen Behörden zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das heißt nicht, dass sich die Überprüfung darauf beschränkt, ob der beschwerdegegnerische Staat seinen Beurteilungsspielraum angemessen, sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; der Gerichtshof muss den gerügten Eingriff unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles prüfen und entscheiden, ob er „zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig“ war und ob die zu seiner Rechtfertigung von den Behörden angeführten Gründe „stichhaltig und ausreichend“ sind. [...] Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den Behörden angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die Behörden die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben. [...]“

 

Stellungnahme

Die Entscheidung des Gerichtshofes überzeugt nicht. Bei der Bejahung der Zulässigkeit weicht der Gerichtshof von seiner ständigen Praxis ab, die Beschwerden, deren eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorausgegangen ist, wonach die Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung genommen wurde, auch für unzulässig zu erklären. Offensichtlich wollte der Gerichtshof zur Begründetheit der Beschwerde – vermutlich aufgrund der Brisanz der Sache - kommen.

Es stellt sich in dem Zusammenhang auch die Frage, warum der Gerichtshof die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zur Unzulässigkeit einerseits für nicht nachvollziehbar hält, weil sie nicht begründet wurde, andererseits die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung verneint,  die Begründung des Bundesverfassungsgerichts „die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist“ für ausreichend hält.

Aber auch in der Sache überzeugt die Entscheidung nicht. Zutreffend weisen die Richterinnen YUDKIVSKA UND JÄDERBLOM darauf hin, dass es im Unterlassungsverfahren gerade nicht darum ging, dem Beschwerdeführer seine Meinungsäußerungen zu verbieten. Das hätte er durch die Betreibung seines Internetportals auch weiter machen können. Vielmehr ging es darum, dem Beschwerdeführer seinen gezielten Angriff auf zwei Ärzte, die gesetzkonform ihre Tätigkeit ausgeübt haben, zu unterlassen.