Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Abweisung eines Geldentschädigungsanspruchs (500 Euro ) wegen einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung durch Polizeieinsatzkräfte am Rande einer Großdemonstration, BVerfG, Beschluss vom 29. 6. 2016 – 1 BvR 1717/15

Der Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer nahm vom 26. auf den 27. November 2011 an einer Blockade der Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg (Ost) im Bereich Harlingen teil, welche anlässlich des Castortransports nach Gorleben stattfand. Die Polizei forderte die Versammlungsteilnehmer auf, sich zu entfernen. Dieser Aufforderung kamen 1. 346 Personen – unter ihnen der Beschwerdeführer – nicht nach. Daraufhin verbrachte die Polizei sie gemäß § 18 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) in einen naheliegenden Feldgewahrsam. Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern. Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (Nds. VersG) handelt ordnungswidrig, wer sich nach einer vollziehbar angeordneten Auflösung der Versammlung nicht unverzüglich entfernt. Eine Vorführung zur richterlichen Anhörung nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG, etwa bei der Gefangenensammelstelle Lüchow, wo ein richterlicher Bereitschaftsdienst eingerichtet war, erfolgte nicht. Sanitäre Einrichtungen waren in Form von circa 30 mobilen Toilettenkabinen vorhanden. Die Außentemperaturen auf dem Feld lagen in der betreffenden Nacht bei circa 5 bis 10 Grad Celsius. Im Laufe des Vormittags begann es leicht zu regnen. Ab 9: 00 Uhr kam es im Feldgewahrsam vereinzelt zu Unruhen. Eine Gruppe von rund 200 Personen legte Vermummungsgegenstände an und attackierte die Sicherheitskräfte an der Auslassstelle. Einige mobile Toilettenkabinen wurden in Brand gesetzt. In diesem Zusammenhang kam es zum Einsatz von Pfefferspray durch Polizeibeamte. Der Beschwerdeführer konnte den Gewahrsamsbereich am folgenden Tage gegen 12: 15 Uhr nach Angabe seiner Personalien verlassen.

Das Gerichtsverfahren:

Mit Beschluss vom 13. August 2014 stellte das Landgericht fest, dass die Freiheitsentziehung insgesamt rechtswidrig gewesen sei, weil jedenfalls eine unverzügliche richterliche Vorführung nicht erfolgt sei. Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme, insbesondere mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Buchstaben b und c EMRK, wonach die Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung nicht beziehungsweise zumindest nicht in jedem Fall die Verhinderung einer Ordnungswidrigkeit zum Gegenstand haben könne, ließ das Landgericht insofern genauso dahinstehen wie die Frage, ob vor Ort Platzverweise erteilt worden sind, deren Nichtbefolgung eine Ingewahrsamnahme gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG hätten rechtfertigen können.

Mit angefochtenem Urteil wies das Landgericht die Klage des Beschwerdeführers auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 500 Euro als teilweise unzulässig, im Übrigen als unbegründet ab, Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 8. April 2015 – 2 O 221/14 -.

Ein Schmerzensgeldanspruch bestehe nur dann, wenn die Ingewahrsamnahme eine hinreichende Schwere aufweise und eine anderweitige Genugtuungsmöglichkeit nicht bestehe. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Es fehle bereits an einer hinreichenden Schwere der Persönlichkeitsverletzung, denn die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme beruhe allein darauf, dass eine Vorführung zur richterlichen Anhörung nicht unverzüglich erfolgt sei. Damit unterscheide sich der Fall signifikant von der Fallgestaltung, in der das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 11. November 2009 (BVerfGK 16, 389 ff.) eine Geldentschädigung als erforderlich angesehen habe. Insbesondere zähle der Beschwerdeführer zu den Teilnehmern der aufgelösten Versammlung, die sich gleichwohl nicht entfernt hätten, und habe sich somit rechtswidrig im Bereich des Bahnkörpers aufgehalten. Zudem habe er bereits Genugtuung dadurch erfahren, dass das Landgericht die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt habe. Diese Feststellung sei auch nicht ohne Wert, da dem Gericht dienstlich bekannt sei, dass die Polizeieinsatzleitung in der Vergangenheit aus Entscheidungen in derartigen Freiheitsentziehungsverfahren Konsequenzen für die Einsatzplanung zur Absicherung der nächsten Castortransporte gezogen habe. Der Beschwerdeführer selbst sei im Übrigen offenbar nicht davon ausgegangen, dass die Bedingungen innerhalb des Gewahrsams rechtswidrig gewesen seien, denn einen entsprechenden Feststellungsantrag habe er nicht gestellt. Konsequent habe er seine Klage auch nicht damit begründet, dass er persönlich im Rahmen oder durch den Rahmen der Gewahrsamsbedingungen persönlichen körperlichen Schaden erlitten habe, insbesondere er selbst mit Pfefferspray in Kontakt gekommen sei. Danach lasse sich hinsichtlich der Verletzung des immateriellen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers keine hinreichende Schwere feststellen, welche die Zahlung einer Geldentschädigung rechtfertigen könne. Auch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK ergebe sich kein Anspruch auf Geldentschädigung unabhängig von Grund und Ausmaß der Freiheitsentziehung.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:

Das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 8. April 2015 – 2 O 221/14 – und der darauf bezogene Beschluss des Landgerichts Lüneburg vom 8. Juni 2015 – 2 O 221/14 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit seinen Grundrechten aus Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit sie die Klage als unbegründet abgewiesen haben. Sie werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Lüneburg zurückverwiesen.

Die Rüge des Beschwerdeführers, die Gerichte hätten zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch in Geld wegen der rechtswidrigen Ingewahrsamnahme verneint, betrifft in erster Linie die Auslegung und Anwendung der als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden zivilrechtlichen Vorschriften, hier des § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Dies obliegt primär den Fachgerichten, deren Entscheidungen insoweit vom Bundesverfassungsgericht nur darauf überprüft werden können, ob ihnen eine grundsätzlich unrichtige Anschauung der betroffenen Grundrechte zugrunde liegt. Das ist der Fall, wenn die Normauslegung die Tragweite der Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt.

Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben, denn die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht einen Anspruch des Beschwerdeführers auf Geldentschädigung für den erlittenen rechtswidrigen Freiheitsentzug verneint hat, werden der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht.

Das Landgericht hat seine Auffassung, dass die von dem Beschwerdeführer erlittene Rechtseinbuße durch die gerichtlich festgestellte Rechtswidrigkeit des Gewahrsams hinreichend ausgeglichen sei, allein auf eine Würdigung der – weitgehend unstreitigen – Umstände der Durchführung des Gewahrsams gestützt. Zudem stützt es sich darauf, dass die Einsatzleitung der Polizei aus der alleinigen Feststellung der Rechtswidrigkeit bereits Konsequenzen für die Einsatzplanung zur Absicherung zukünftiger Castortransporte gezogen habe. Daran bestehen jedoch erhebliche Zweifel, was gerade das vorliegende Verfahren zeigt. Darüber hinaus wird die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zwar erwähnt, aber nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles einbezogen, dass die Grundrechtsverletzung bereits in der rechtswidrigen Freiheitsentziehung selbst und damit unabhängig von den Bedingungen ihres Vollzuges zu sehen ist. Dies gilt für die Missachtung des Richtervorbehalts des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG auch im Lichte des Art. 5 Abs. 3 EMRK, der sowohl eine zusätzliche verfahrensrechtliche als auch eine materielle Freiheitsgarantie entfaltet.

Zu beanstanden ist weiter, dass das Landgericht in der mindestens achtstündigen Festsetzung des Beschwerdeführers keine nachhaltige Beeinträchtigung gesehen hat, ohne die abschreckende Wirkung zu erwägen, die einer derartigen Behandlung für den künftigen Gebrauch grundrechtlich garantierter Freiheiten – namentlich der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Teilnahme an Demonstrationen – zukommen konnte und die der Rechtsbeeinträchtigung ein besonderes Gewicht verleihen kann.

Das Absehen von einer Entschädigung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die durchgeführte Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung lediglich ein Abwicklungsproblem der Polizei angesichts der großen Anzahl festgesetzter Versammlungsteilnehmer war. Die Polizei hat vielmehr über viele Stunden nicht die gebotenen Anstrengungen unternommen, um eine richterliche Entscheidung herbeizuführen oder die Festsetzung zu beenden. Nach den Feststellungen der angegriffenen Entscheidung wurde eine große Zahl von Versammlungsteilnehmern in den frühen Morgenstunden – der Beschwerdeführer gegen 4 Uhr – in Feldgewahrsam genommen, ohne dass die Polizei die erforderlichen Anstalten traf, eine richterliche Entscheidung möglichst schnell herbeizuführen. Stattdessen wartete sie zunächst zu, richtete gegen Mittag Auslassstellen ein und begann erst dann – verbunden mit Identitätsfeststellungen – mit den Entlassungen. Entsprechend stellte das Landgericht in Abänderung der amtsgerichtlichen Entscheidung fest, dass die Freiheitsentziehung nicht nur teilweise, sondern insgesamt rechtswidrig war.