Der EGMR urteilt am 01.09.2016: in JVA Kaisheim in Bayern wird gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verstoßen, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Somit ergänzt die Bundesrepublik die Liste der Länder, in denen der Gerichtshof unmenschliche Haftbedingungen festgestellt hat, also Georgia, Moldawien und Russland. Ein harter Schlag für den Freistaat Bayern, der laut Ministerpräsident Seehofer als „Vorstufe zum Paradies“ gelten soll. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; gegen das Urteil können die Parteien binnen drei Monaten die Entscheidung der Großen Kammer beantragen. Zum Volltext des Urteils geht es hier

 Im Art. 3 EMRK heißt es:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“.

Die medizinische Versorgung von Strafgefangenen wurde bereits Gegenstand mehreren Entscheidungen des EGMR, so z. B.

Poghosyan gegen Georgia, Nr. 9870/07, 24. Februar 2009

Xiros gegen Griechenland, Nr. 1033/07, 9. September 2010

Budanov gegen Russland, 66583/11, 9. Januar 2014

Sarban gegen Moldawien, Nr. 3456/05, 4. Oktober 2005.

Nun stellt der EGMR fest, dass in Deutschland in Bezug auf die medizinische Versorgung in bayerischer JVA Kaisheim gegen Art. 3 EMRG verstoßen wurde.

Dort wird den - bereits seit 1993 anerkannten Grundsätzen, dass die Gefangenen auf das gleiche Niveau der medizinischen Versorgung berechtigt sind wie die Personen, die in der Gemeinschaft insgesamt leben - nicht gefolgt.

Der Fall Nr. 62303/13: Wolfgang Adam Wenner gegen die Bundesrepublik Deutschland

Der deutsche Staatsangehörige Herr Wolfgang Adam Wenner (Beschwerdeführer) hat am 30. September 2013 Beschwerde beim EGMR erhoben.

Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die JVA Kaisheim hat ihm die Drogenersatztherapie während der Haft verweigert, wodurch bei ihm physische und psychische Belastung verursacht und dadurch durch den Artikel 3 der Konvention verstoßen. Er verlangt 1.911,20 Euro  Arbeitsausfallschaden, 10.000 Euro Schmerzensgeld und 1.801,05 Euro Kosten seiner Anwälte vor den innerstaatlichen Gerichten und 833 Euro vor dem EGMR.

Der Beschwerdeführer, geb. 1955 ist seit 1973 heroinabhängig. Er ist seit 1975 an Hepatitis C erkrankt und war HIV-positiv seit 1988. Er hat versucht, seine Sucht nach Heroin mit verschiedenen Arten der Behandlung zu überwinden von denen alle gescheitert sind. Von 1991 bis 2008 wurde er mit einer ärztlich verordneten und überwachten Drogensubstitutionstherapie behandelt. Seit dem Jahr 2001 ist er erwerbsunfähig.

 Im Jahr 2008 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Drogenhandels verhaftet und in Untersuchungshaft in Kaisheim Gefängnis gebracht, wo seine Drogenersatztherapie gegen seinen Willen unterbrochen wurde. Am 3. Juni 2009 verurteilte das Landgericht Augsburg den Beschwerdeführer zu drei Jahren und sechs Monaten Haft und unter Berücksichtigung einer früheren Verurteilung zu weiteren zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Es ordnete ferner seine Unterbringung in einer Drogenentziehungsanstalt.

Am 19. April 2010 erklärte das Memmingen Landesgericht die Unterbringung des Antragsstellers in der Entziehungsanstalt für beendet und ordnete seine Verlegung ins Gefängnis.

Der Beschwerdeführer wurde zurück nach Kaisheim Gefängnis verlegt am 30. April 2010. Die Anstaltsärzte gaben ihm verschiedene Schmerzmittel zur Behandlung chronischer Schmerzen. Seinen Antrag für die Behandlung mit Diamorphin, Polamidon oder einem anderen Heroin Ersatz für seine Heroinsucht, dem er befürwortete Stellungnahmen  externer Ärzte beigelegt hatte, wurde durch JVA jedoch abgelehnt. Auch seiner Bitte, die Notwendigkeit der Drogensubstitutionsbehandlung durch einen externen Facharzt überprüfen zu lassen, ist die JVA nicht nachgekommen. Ebenso (später) nicht die deutschen Gerichte, die die die Entscheidung der JVA für rechtmäßig gehalten haben.

Unmittelbar nach seiner Entlassung im Jahre 2014 wurde die Drogensubstitutionstherapie wieder fortgeführt.

Entscheidung des EGMR:

Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, CPT) des Europarates gibt die CPT- Behandlungsstandards vor. In den hier relevanten Abschnitten der CPT / Inf / E (2002) 1 - Rev. 2010 heißt es, dass die Gefangenen auf das gleiche Niveau der medizinischen Versorgung berechtigt sind wie die Personen, die in der Gemeinschaft insgesamt leben.

Eine Studie der Technischen Universität Dresden, die im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, bestätigt, dass Opiatabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit ist. Drogensubstitutionsbehandlung war zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1949 getestet und gilt seitdem als die bestmögliche Therapie für Opiatabhängigkeit. Einer der häufigsten verwendeten Medikamente zur Drogensubstitutionstherapie ist Methadon, ein synthetisches Opioid mit starker schmerzstillenden Wirkung. Langfristige Substitutionsbehandlung hatte sich als wirksam erwiesen. Die primären Ziele dieser Behandlung (das heißt, die Kontinuität der Behandlung, Reduzierung des Drogenkonsums und soziale Teilhabe) konnten am Optimalsten erreicht werden.

Unter Anwendung dieser medizinischen Erkenntnisse stellt der EGMR fest, dass die JVA verpflichtet war, dem Beschwerdeführer eine Drogensubstitutionstherapie zu gewähren. Die JVA hat jedoch nicht mal eine fachärztliche Stellungnahme zur Begründung der Therapieablehnung eingeholt.

Der EGMR sieht somit die Verletzung des Art. 3 EGMR als gegeben an. Er spricht dem Beschwerdeführer den Ersatz seiner Auslagen vor deutschen Gerichten und Prozesskostenhilfe für das Verfahren beim EGMR zu, jedoch (ohne Begründung) kein Schmerzensgeld. Der Beschwerdeführer hat jedoch die Möglichkeit das Schmerzensgeld im Wege einer Amtshaftungsklage in Deutschland geltend zu machen.

Zu Patientenrechten von Strafgefangenen geht es hier