Der Gelbe Brief vom Gericht – (il)legale Zustellung?
EGMR hat am 15.09.16 im Fall JOCHANSEN gegen Bundesrepublik entscheiden. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; gegen das Urteil können die Parteien binnen drei Monaten die Entscheidung der Großen Kammer beantragen.
Der Volltext der Entscheidung lesen Sie hier
Recht auf Information
Die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. Art. 6 EMRK setzt voraus, dass die Berechtigten relevante Informationen über das gerichtliche Verfahren erhalten. Das betrifft vor allem die Benachrichtigung vom Verfahren. Die Benachrichtigung im Wege der Zustellung erfolgt in der Bundesrepublik durch Ersatzzustellung gem. §§ 181 ff. ZPO, §37 StPO. Mit der Ersatzzustellung werden private Dienstleister beauftragt. Die Aufträge werden auf Grundlage der maßgeblichen vergaberechtlichen Bestimmungen ausgeschrieben und vergeben.
Ablauf der Ersatzzustellung
Das zuzustellende Schriftstück wird am Ort der Zustellung bei einer von der Post dafür bestimmten Stelle – also im Briefkasten - niedergelegt. Über die Niederlegung wird eine schriftliche Mitteilung auf dem vorgesehenen Formular unter der Anschrift der Person, der zugestellt werden soll, in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben oder, wenn das nicht möglich ist, an der Tür der Wohnung, des Geschäftsraums oder der Gemeinschaftseinrichtung angeheftet. Das Schriftstück gilt mit der Abgabe der schriftlichen Mitteilung als zugestellt. Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung, d. h. wann er das Schreiben in den Briefkasten geworfen hat.
Verfahren in Deutschland
Im aktuellen Verfahren vom EGMR hat die Beschwerdeführerin die Ersatzzustellung in einem Strafverfahren bestritten. Sie hat behauptet, einen Strafbefehl in Ihrem Briefkasten nicht erhalten zu haben und diese unter Beweis ihres Ehemannes, ihres Anwaltes und ihrer Mutter, die in ihrem Haus am Tag der angeblichen Zustellung anwesend waren gestellt. Da die Frist für den Einspruch verstrichen war, hat sie die Wiedereinsetzung in vorigen Stand beantragt. Das Gericht hat die Zustellungsperson angehört und den Antrag der Beschwerdeführerin auf die Wiedereinsetzung zurückgewiesen. Damit war der Strafbefehl rechtskräftig. Nach dem erfolglosen Beschwerdeverfahren und dem Verfahren beim BVerfG hat sie Beschwerde zum EGMR erhoben.
Entscheidung der EGMR
Der Gerichtshof hält die Beschwerde zwar für zulässig, jedoch unbegründet. Das Recht der Beschwerdeführerin auf faires Verfahren sei nicht verletzt worden. Denn die innerstaatlichen Gerichte haben im Rahmen der Beweiswürdigung die Aussage der Zustellungsperson und der Zeigen der Beschwerdeführerin ausreichend gewürdigt und nicht willkürlich entschieden. So heißt es in der Entscheidung des Gerichtshofes:
„In view of the foregoing elements, the Court concludes that the standard of proof which the applicant had to comply with in order to disprove the service of the penal order on her was indeed very high. However, the Court is satisfied that the interpretation of domestic law, and in particular of the applicable procedural rules in practice by the domestic courts in the applicant’s case, availed her of a sufficient opportunity to disprove the service of the penal order. The domestic courts, by taking additional evidence, addressed all arguments brought forward by the applicant in this respect. They found in reasoned decisions which do not disclose any arbitrariness that there was not sufficient proof that the penal order had not been served on the applicant in November 2008 as certified by the record of service. As a consequence, the applicant was awarded sufficient opportunity, by lodging an objection against the penal order within the statutory time-limit, to have the charges against her decided again by a court, following a hearing.
Therefore, the Court finds that the domestic courts’ interpretation of the applicable procedural rules in the present case constituted a proportionate limitation on the applicant’s right of access to court which did not undermine the very essence of that right.”
Auswirkungen für die Praxis:
Dass dieser Fall überhaupt vom Gerichtshof entschieden wurde, zeigt, dass die - im Einklang mit innerstaatlichen Vorschriften vorgenommene - Ersatzzustellung nach § 181 ZPO nicht unproblematisch ist. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Vermerk des Zustellers kein 100% Beweis der Zustellung sei. Trägt der Adressat unter Beweisantritt vor, das Schriftstück nicht erhalten zu haben, ist das Gericht zu Ermittlungen verpflichtet, vor allem zur Vernehmung der Zustellungsperson.
In der anderen Konstellation tritt die Zustellungsproblematik in umgekehrten Fällen auf, zum Beispiel, wann und unter welchen Umständen die erfolgte Zustellung bewiesen ist. Hierzu geht es hier zum Fall des AG Kempen, 22.08.2006 - 11 C 432/05