EGMR

Berrehab gegen Niederlande

Urteil vom 21. Juni 1988

Beschwerde Nr. 10730/84

Recht auf Familienleben, Art. 8

Sondervotum: Eins.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (Bf.) Abdellah Berrehab, ein 1952 in Marokko geborener marokkanischer Staatsangehöriger hatte, als er die Kommission an- rief, seinen Wohnsitz in Amsterdam. Die zweite Bf. ist seine Tochter Rebecca Berrehab, geboren am 22. August 1979 in Amsterdam. Sie hat die niederlän- dische Staatsangehörigkeit. Nach seiner Eheschließung im Oktober 1977 mit Frau Koster, bean- tragte der Bf. eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande, wo er sich schon seit einiger Zeit aufhielt. Das Justizministerium gewährte sie ihm, frei- lich „nur zu dem Zweck, ihm das Zusammenleben mit seiner niederlän- dischen Ehefrau zu ermöglichen“.

Im Februar 1979 ließen sich der Bf. und Frau Koster scheiden. Frau Koster erhielt die elterliche Gewalt über ihre gemein- same Tochter Rebecca, die in der Zwischenzeit zur Welt gekommen war. Dem Bf. wurde die Zahlung von Unterhalts- und Erziehungskosten auferlegt, und er wurde zum Hilfsvormund seiner Tochter bestellt. Der Bf. besuchte seine Tochter häufig und regelmäßig, d.h. viermal pro Woche während mehre- rer Stunden. Im Dezember 1979 beantragte der Bf. die Verlängerung seiner Aufent- haltsgenehmigung. Dieser Antrag wurde von sämtlichen niederländischen In- stanzen mit der Begründung abgelehnt, dass die Aufenthaltsgenehmigung dem Bf. allein zum Zwecke des Zusammenlebens mit seiner niederländischen Ehe- frau gewährt worden sei und dass er diese Bedingung nun nicht mehr erfülle. Der Bf. und seine geschiedene Frau (Frau Koster), die sowohl im ei- genen als auch im Namen ihrer minderjährigen Tochter handelte, legten ihre Beschwerden am 14. November 1983 bei der Kommission ein. Sie rügen, die Ausweisung des Bf. verletze Art. 3 und Art. 8. Im Januar 1984 wurde der angefochtene Ausweisungsbefehl vollstreckt. Im Jahr 1984 besuchten Rebecca und ihre Mutter den Bf. in Marokko. Im August 1985 heirateten der Bf. und Frau Koster ein zweites Mal, und der Bf. erhielt wiederum eine Aufenthaltsgenehmigung „für den alleinigen Zweck, mit seiner niederländischen Ehefrau zusammenzuleben und in dieser Zeit ar- beiten zu können“.

Entscheidungsgründe:

Die behauptete Verletzung von Art. 8

Die Bf. behaupten, die Verweigerung einer neuen Aufenthaltsgenehmi- gung nach der Scheidung und der daraus folgende Ausweisungsbefehl hätten Art. 8 der Konvention verletzt, der wie folgt lautet: „1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft not- wendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Die Regierung bestreitet diese Behauptung, die Kommission stimmt ihr je- doch zu. A. Anwendbarkeit von Art. 8 Die Bf. behaupten, die Anwendbarkeit von Art. 8 im Hinblick auf die Worte „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ hänge nicht von einem ständigen Zusammenleben ab. Die Ausübung des Besuchsrechts eines Vaters gegenüber seinem Kind und sein Beitrag zu den Ausbildungskosten seien ausreichende Elemente, um ein Familienleben zu begründen. Auch der Gerichtshof erachtet das Zusammenleben nicht als unerlässliche Bedingung für ein Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern. Nach seiner Rechtsprechung muss eine Beziehung, die durch eine rechtmäßige und ernst gemeinte Heirat zwischen zwei Ehepartnern zustande kommt – wie derjenigen von Herrn und Frau Berrehab –, als „Familienleben“ qualifiziert wer- den (vgl. den Fall Abdulaziz, Cabales und Balkandali vom 28. Mai 1985, Série A Nr. 94, S. 32, Ziff. 62, EGMR-E 3, 85).

Aus dem Familienbegriff, auf dem Art. 8 beruht, folgt, dass ein Kind aus einer solchen Verbindung von Rechts wegen Teil dieser Beziehung wird. Daher entsteht zwischen dem Kind und seinen Eltern im Augenblick seiner Geburt und durch diese allein ein Band, das ein „Familien- leben“ darstellt, auch wenn die Eltern nicht zusammenleben. Spätere Ereignisse können dieses Band natürlich zerreißen, aber dies war im vorliegenden Fall nicht so. Gewiss lebten Herr Berrehab und Frau Koster, die geschieden waren, nicht mehr zusammen, als Rebecca geboren wurde, und sie nahmen das Zusammenleben auch später nicht wieder auf. Dies ändert aber nichts daran, dass der Bf. bis zu seiner Ausweisung aus den Niederlanden seine Tochter viermal pro Woche während mehrerer Stunden besuchte; die Häufigkeit und Regelmäßigkeit dieser Treffen mit ihr beweisen, dass sie ihm viel bedeuteten. Es kann also nicht behauptet werden, dass das Band des „Familienlebens“ zwischen ihnen gerissen sei. Den Bf. zufolge führten die Verweigerung der Aufenthaltsgenehmigung nach der Scheidung und die daran anschließende Ausweisung zu Eingriffen in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens, wenn man die Distanz zwischen den Niederlanden und Marokko berücksichtigt und die finanziellen Probleme, welche die erzwungene Rückkehr des Bf. in sein Heimatland mit sich brachte. Die Regierung erwidert, dass den Bf. nichts daran gehindert habe, sein Besuchsrecht durch eine Reise von Marokko in die Niederlande aufgrund eines zeitlich begrenzten Visums auszuüben. Wie die Kommission sieht der Gerichtshof diese Möglichkeit unter den gegebenen Umständen als ziemlich theoretisch an; im Übrigen wurde dem Bf. ein solches Visum erst nach einer anfänglichen Ablehnung erteilt . Die beiden angefochtenen Maßnahmen hinderten also die beiden Bf. praktisch daran, regelmäßige Kontakte miteinander zu pflegen, obwohl solche Treffen für ein so kleines Kind wichtig sind. Die Maßnahmen stellten folglich Eingriffe in die Ausübung eines Rechts dar, das in Art. 8 Abs. 1 ga- rantiert wird, und bedürfen somit einer Überprüfung unter dem Gesichts- punkt von Abs. 2.

Nach Ansicht der Bf. verfolgten die angefochtenen Maßnahmen keines der in Art. 8 Abs. 2 aufgezählten Ziele; vor allem dienten sie nicht dem „wirtschaftlichen Wohl des Landes“, da sie Herrn Berrehab daran hinderten, weiterhin zu den Unterhalts- und Erziehungskosten seiner Tochter beizutragen. Der Gerichtshof kommt zu derselben Schlussfolgerung. Er weist jedoch darauf hin, dass das rechtmäßige Ziel, das verfolgt worden sei, eher in der Wahrung des wirtschaftlichen Wohles des Landes i.S.v. Art. 8 Abs. 2 bestanden habe als in der Aufrechterhaltung der Ordnung: Der Regierung ist es wegen der Bevölkerungsdichte um die Regulierung des Arbeitsmarktes gegangen. Die Bf. behaupten, dass die angefochtenen Maßnahmen nicht als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ angesehen werden könnten. Bei der Entscheidung, ob ein Eingriff „notwendig in einer demokrati- schen Gesellschaft“ ist, berücksichtigt der Gerichtshof den Beurteilungsspielraum (marge d’appréciation / margin of appreciation), der den Vertragsstaa- ten verbleibt (s. insbesondere den Fall W. gegen Vereinigtes Königreich vom 8. Juli 1987, Série A Nr. 121-A, S. 27, Ziff. 60 b) und d), EGMR-E 3, 557, und den Fall Olsson vom 24. März 1988, Série A Nr. 130, S. 31 f., Ziff. 67, EGMR-E 4, 33). In dieser Hinsicht anerkennt der Gerichtshof, dass die Konvention den Vertragsstaaten nicht grundsätzlich verbietet, die Einreise und Aufenthalts- dauer von Ausländern zu regeln. Nach seiner ständigen Rechtsprechung (s. insbesondere die vorzitierten Urteile) setzt aber „Notwendigkeit“ voraus, dass der Eingriff einem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis entspringt und insbesondere zum verfolgten rechtmäßigen Ziel verhältnismäßig ist. Der Gerichtshof hat zu prüfen, ob diese letzte Bedingung erfüllt ist. Zunächst hält er jedoch fest, dass es nicht seine Aufgabe ist, über die niederlän- dische Einwanderungs- und Aufenthaltspolitik für Ausländer als solche zu ur- teilen. Er hat einzig die gerügten Eingriffe zu untersuchen, dies nicht nur un- ter dem Gesichtspunkt der Einwanderung und der Niederlassung, sondern auch im Hinblick auf das gegenseitige Interesse der Bf. an der Fortsetzung ihrer Beziehungen. Wie der niederländische Kassationshof ebenfalls bemerkt hat (s.o. Ziff. 16), ist das verfolgte rechtmäßige Ziel gegen die Schwere des Eingriffs in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens abzuwägen. Was das verfolgte Ziel anbetrifft, muss hervorgehoben werden, dass es im vorliegenden Fall nicht um einen Ausländer ging, der zum ersten Mal um Aufnahme in den Niederlanden nachsuchte, sondern um eine Person, die schon einige Jahre rechtmäßig dort gelebt hatte und die dort über Wohnung und Arbeit verfügte. Die Regierung behauptet auch nicht, dass dem Bf. ir- gendetwas vorzuwerfen sei. Ferner verfügte der Bf. dort schon über echte Familienbande – er hatte eine Niederländerin geheiratet, und aus dieser Ehe war ein Kind hervorgegangen. Hinsichtlich des Umfangs des Eingriffs ist zu beachten, dass zwischen dem Bf. und seiner Tochter während einiger Jahre sehr enge Bindungen vorhanden waren und dass die Versagung einer eigenständigen Aufenthaltsgenehmigung und die daraus resultierende Ausweisung die Gefahr mit sich brachten, diese Bande zu zerreißen. Diese Auswirkung der strit- tigen Eingriffe wog umso schwerer, als Rebecca insbesondere wegen ihres ge- ringen Alters die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu ihrem Vater brauchte. In Anbetracht dieser besonderen Umstände ist der Gerichtshof der An- sicht, dass kein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den maßgeblichen In- teressen erzielt worden ist und dass daher ein Missverhältnis zwischen den an- gewandten Mitteln und dem verfolgten rechtmäßigen Ziel bestanden hat. Daraus folgt, dass der Gerichtshof die strittigen Maßnahmen nicht für not- wendig in einer demokratischen Gesellschaft halten kann. Er kommt daher zum Ergebnis, dass eine Verletzung von Art. 8 vorliegt. Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof,

1. mit sechs Stimmen gegen eine, dass eine Verletzung von Art. 8 vorliegt;

2.einstimmig, dass Art. 3 nicht verletzt wurde;

3. einstimmig, dass die Niederlande den Bf. 20.000,– Gulden [ca. 9.076,– Euro] als gerechte Entschädigung zu zahlen haben;

4. einstimmig, den Antrag auf gerechte Entschädigung im Übrigen zurückzuweisen.

Quelle: N.P. Engel Verlag • EGMR-E 4 • Text • Seite 109 • 31.5.2010